In den vergangenen Jahren durften wir Isabel Rith-Magni bereits mehrfach bei uns im arte fact begrüßen. In ihrem letzten Vortrag – „Schattenspiele. Über Licht und Schatten als Gestaltungsmittel in der Kunst” – widmete sie sich beispielsweise dem Einsatz von Licht und Schatten in der Kunstgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart. Mit ihren kommenden Vorträgen, „Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren“ und „Der magische Blick. Können Bilder sehen?“, aber auch mit der Veranstaltung „Kitsch! ...oder Kunst? Über die Grenzen des guten Geschmacks“ greift die promovierte Kunsthistorikerin unsere Wahrnehmung von Kunst und die Rolle unserer Wahrnehmung - als BetrachterInnen - in der Kunst wieder auf.
Seit 2013 lehrt Dr. Rith-Magni Kunstgeschichte an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft fächerübergreifend im Rahmen des Studium Generale. Im Laufe ihrer Lehrtätigkeit widmete sie sich im Rahmen eines Drittmittelprojekts verstärkt dem Thema partizipativer Strategien in der Kunst.
arte fact: Welchen Stellenwert messen Sie persönlich der Partizipation und dem kulturellen Austausch in der Kunst und kunstgeschichtlichen Disziplin bei?
Dr. Rith-Magni: Ich glaube, man muss zu dem Begriff „Partizipation“ ein paar Unterscheidungen machen. Partizipation oder Teilhabe in der Kunst ist ein bestimmtes theoretisches Konzept; das ist ein bisschen etwas anderes als beispielsweise im Kontext der Postcolonial Studies zu fragen, wer warum ausgeblendet wird und wen man eigentlich sichtbarer machen möchte.
Das künstlerische Konzept hat sich in den sechziger Jahren herausgebildet. Es propagiert ein hybrides Kunstverständnis, wobei die traditionellen Konstanten Künstler, Werk und Betrachter ganz neu definiert - ja eigentlich aufgelöst werden. Also statt Werk gibt es dann Prozess, statt Betrachtenden gibt es Co-AkteurInnen und statt Künstlern, die früher häufig geniehaft gedacht waren, sind es dann eher Impulsgeber.
arte fact: Also bezieht sich das alles auch sehr viel mehr auf einen Wahrnehmungswandel der Kunst, durch den bedingt die Begriffe nicht mehr so eng, sondern eher erweitert gedacht werden?
Ich würde sagen, „Partizipation“ ist ein alternatives Modell. Eigentlich wirklich ein paralleles Konzept, das mit Begriffen wie „Kunst“ hantiert. Dadurch gibt es natürlich gewollt oder ungewollt auch Irritationen, Missverständnisse; manchmal Gleichsetzungen, wo keine hingehören.
arte fact: Welchen Stellenwert messen Sie diesen Theorien selbst bei, verglichen mit dem bis dato herkömmlichen Modell?
Ich denke, beides hat eine Daseinsberechtigung. Beide Modelle und ihre VertreterInnen haben allerdings ein bisschen Berührungsängste. Das eine ist die „echte Kunst“, die hohe Kunstübung sozusagen, die angeblich noch ‚richtig‘ mit Öl und Marmor arbeitet; und das andere ist doch eher „läppisches Mitmachtheater für sozial-engagierte Leutchen“. Das sind so ein bisschen gegenseitige Vorwürfe: Das eine gilt als elitär und das andere als Pseudokunst.
Ich denke, es ist wichtig, gegenseitig mehr Offenheit für unterschiedliche Vorstellungen, was künstlerische Strategien sein können, mitzubringen.
arte fact: Der nächste Schritt nach mehr Offenheit ist dann, dass beide Lager in einen Dialog treten, der ja durchaus förderlich für die Kunst sein kann. Frau Dr. Rith-Magni, wie bewerten Sie die momentanen Teilhabemöglichkeiten in der Kunst und kunstgeschichtlichen Disziplin?
Ich denke, wir sind am Anfang eines langen Weges. Wir haben schon ein paar Schritte gemacht, einfach dadurch, dass ein Bewusstsein für bestimmte Schwierigkeiten geschaffen ist. Schwierigkeiten in dem Sinn, dass viele Menschen aus einem bestimmten Verständnis von Kunstbetrieb ausgeschlossen waren. Ich nehme noch mal als Stichwort die Postkolonialen Wissenschaften oder Postcolonial Studies. Sie zeigen: Es gibt riesige Bereiche, etwa im Ausstellungswesen oder in der Forschung, die durch einen sehr stark praktizierten Eurozentrismus komplett ausgeblendet waren.
Ich glaube aber, da gibt es in den letzten 5 Jahrzehnten zunehmend positive Experimente. Museen sind viel offener. Das ist längst nicht mehr der Elfenbeinturm oder der Musentempel. Die berühmte Schwellenangst gibt es so gar nicht mehr.
Zum Teil besteht vielleicht eher die Gefahr, dass das Konzept der Teilhabe so überstrapaziert wird, dass es häufig ein bisschen trivial wird. Deshalb muss man Dinge ausprobieren, um herauszufinden, wie man tatsächlich mehr gesellschaftliche Integrationsmöglichkeiten schafft, die bei solchen Projekten nicht auf Kosten einer hohen künstlerisch-ästhetischen Qualität gehen.
arte fact: Diese neue Herausforderung an die Kunst passt auch zu dem Zitat von Paul Klee, mit dem Sie die Vorankündigung zu Ihrem Vortrag „Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren“ eröffnen: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit werden heutzutage vor allem viel und heiß im politischen Kontext diskutiert. Während wir uns in politischen und soziokulturellen Dimensionen kritischen Fragen stellen müssen, die sich aus der Geschichte unserer Gesellschaft ergeben, beginnt Kunst immer zuerst beim einzelnen Betrachter. Welche Rolle spielten und spielen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in der Kunst in der Vergangenheit und heute?
Ich würde eine grundsätzliche Unterscheidung machen zwischen Lücke bzw. Leerstelle und dem, was seit Umberto Eco „Offenheit“ genannt wird. Das „offene Kunstwerk“ meint, dass es keine abgeschlossene Einheit ist, die ich als solche erkennen kann, sondern ein offenes Angebot, was jeweils durch die Rezeption erst definiert wird. Diese Nichtfestgelegtheit zeichnet jede Art von Kunstwerk aus: Wir sehen Unterschiedliches in Kunstwerken, weil wir unterschiedliche Assoziationen haben, einen unterschiedlichen Bildungs- und Erfahrungshorizont und so weiter. Das würde ich Offenheit nennen.
Da ein Kunstwerk eine Komprimierung oder ein Kondensat und nicht ein Abklatsch der Wirklichkeit ist, wird zwangsläufig mit Auslassungen und Verdichtungen gearbeitet. Das heißt, wir als Betrachter müssen auch das Unsichtbare mitdenken, um aus dem ästhetischen Gefüge Sinn zu generieren. Etwas wahrzunehmen ist mehr, als etwas zu sehen.
Davon unterscheide ich etwas, was man eine kalkulierte Leerstelle oder - besser gesagt - eine kalkulierte Unbestimmtheitsstelle nennen kann. Nehmen wir als Beispiel den Vorhang. Ein Vorhang in einem Bild verdeckt als Motiv etwas, beispielsweise ein Fenster, so dass jenen, die das Bild betrachten, der Ausblick verwehrt ist. Oder, ein anderes Beispiel, schattige Stellen oder eine verschlossene Tür – das sind oft sehr präzise eingesetzte Stellen, die den Betrachter einladen, genau hier die Auslassung assoziativ zu füllen.
arte fact: Ein Beispiel für eine solche kalkulierte Unbestimmtheitsstelle findet sich in Tizians Porträt von Filippo Archinto aus dem 16. Jahrhundert; die Verschleierung seiner einen Körperhälfte, die Tizian mit kirchlicher Symbolik versehen hat, weist auf eine Zukunft hin, die Filippo Archinto verwehrt wurde.
Das ist ein gutes Beispiel. Verschleiern und Offenbaren oder Entdecken und Verhüllen sind keine Gegenbegriffe, sondern stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Das eine lässt sich nicht ohne das andere denken. Nehmen wir mal das Beispiel Christo und Jeanne-Claude. Wenn sie Verpackungen im urbanen Raum machten, große Inszenierungen, dann wurde etwas erst dadurch sichtbar, dass es verhüllt wurde: die Form, der räumliche Kontext etc.
arte fact: Dieses dialektische Verhältnis, das abhängig davon ist, was wir, als BetrachterInnen, mitbringen, findet sich ebenfalls in Ihrem zweiten Vortrag „Der magische Blick. Können Bilder sehen?“ Von welchen Bildern reden wir in Bezug auf dieses Thema? Bei Porträts sehen wir Gesichter und sind wahrscheinlich viel schneller bereit, diesen eine Art Wahrnehmungsfähigkeit zuzuschreiben. Spielt da die zuvor angesprochene Offenheit ebenfalls eine Rolle?
Offenheit zeichnet jedes Kunstwerk aus. Im Rahmen eines Vortrags muss man sich begrenzen. Daher werde ich die gesellschaftspolitische Sicht, die enorm wichtig ist und deshalb auch viel mehr Raum braucht, um die Komplexität überhaupt ein bisschen fassen zu können, hier ausblenden und mich tatsächlich auf klassische Kunstwerke, also solche, die einem eher traditionellen Kunstverständnis folgen, konzentrieren und sie auf ihre Funktionsweise hin untersuchen.
Wie kommt es eigentlich, dass uns bestimmte Werke ein unheimliches oder ein heiteres Gefühl vermitteln? Oder sogar Angst auslösen? Oder dass wir uns, Stichwort „Silberblick“, angesehen fühlen?
Auch wenn wir Blickkontakt mit einer Figur aufnehmen und wir uns angeschaut fühlen, müssen wir uns letztendlich klar machen, dass wir es in Wahrheit mit Pigmenten in Öl auf Leinwand zu tun haben. Also mit Materie, die bewusstlos ist. Wir werden nicht angeschaut. Aber wie schaffen es KünstlerInnen dann, wie funktioniert ihre gestalterische Strategie, dass wir uns betrachtet fühlen können?
Es gibt einen Schweizer Konzeptart-Künstler, Remy Zaugg, der Jahrzehnte seines künstlerischen Schaffens dieser Frage gewidmet und formal extrem reduzierte Schriftbilder gemalt hat. Da steht dann nichts anderes als großformatig auf Leinwänden geschrieben: „Ich, das Bild, sehe dich.“ Das ist eigentlich eine absurde Verkehrung: Als BetrachterInnen ist es, wie das Wort schon sagt, unsere Rolle oder Funktion, das Bild anzusehen, aber es ist ein ungewohnter Gedanke, dass das Bild uns anschaut. Was bedeutet das? Heißt wir sind eigentlich an einer total interessanten Schnittstelle: Wie funktioniert Wahrnehmung, wie werden Kunstwerke eingesetzt?
Ich freue mich darauf, das mit den BesucherInnen meiner Vorträge im arte fact gemeinsam zu erkunden.
Das Interview führte Lisa Mannhardt im Februar 2022 per Zoom.