Kreativitätswahn

Ein Beitrag von Volker Altrichter

Es gibt einige scheinbar harmlose Begriffe, die einem durch ihre ständige Präsenz und Überhöhung gewaltig auf die Nerven gehen können.

Eine dieser Plagen ist das überbordende Gefasel von der „Kreativität“. Dabei scheinen die “Experten“ noch nicht einmal genau zu wissen, worum es sich dabei überhaupt handelt.

Unzählige Forscher und Berufene versuchen dieser geheimnisvollen Fähigkeit auf die Schliche zu kommen um sie (zum eigenen Wohle) nutzbar zu machen - vergeblich.

Das Verführerische an dem Wort „Kreativität“ ist, dass es sich offensichtlich mit jedem x-beliebigen Ausdruck kombinieren lässt. Dies eröffnet ungeahnte Möglichkeiten.

Das kreative Milieu

Es gibt Kreativitätstechniken, die in Kreativkindergärten die kreative Entwicklung und kreative Kompetenz der Kinder stärken sollen, aber manchmal zu einer frühzeitigen Kreativitätsblockade führen.

Dann muss an Kreativitätsschulen mit Hilfe von Kerativitätstests die Kreativitätsentwicklung untersucht werden, um den Kreativitätsquotienten dauerhaft zu erhöhen.

Ein kreativer Arbeitgeber wird später aus dem jungen Menschen mit Hilfe eines Kreativitätscoaches noch die letzten kreativen Ressourcen für die Kreativwirtschaft herauspressen.

Erlahmt daraufhin der kreative Output der armen Socke, werden im berufsbegleitenden Kreativitätstraining mit erfahrenen Kreativtrainern die Kreativitätsbremsen wieder gelockert.

Das hört sich lustig an – ist es aber nicht.

Heilsversprechen

Interessanterweise hat selbst die Forschung eingestanden, „dass es nachwievor keine allgemein verbindliche Definition des Konstruktes „Kreativität“ gibt“, was erst einmal die Voraussetzung für eine seriöse Feldforschung wäre. So tummeln sich auf dem Gebiet der Kreativitätsforschung die unterschiedlichsten Schulen und Glaubensrichtungen.

Dieser Sachverhalt  spielt natürlich für die Kreativindustrie überhaupt keine Rolle. Es geht allein um den Umsatz. Vom Kindergarten bis zum DAX-Unternehmen reicht der anvisierte Kundenstamm.

Es ist ein Millionengeschäft mit bizarren Versprechungen und hemmungslosen Angeboten. Es werden Erfolge prophezeit, die niemals haltbar sind: Kreativität als Allheilmittel soll alles und jeden besser, erfolgreicher und glücklicher machen. Sie soll sogar die Welt vor Klimawandel und Hunger retten! Was für ein Glück für die Kreativitätsapostel, dass der versprochene Zuwachs an Gestaltungskraft in keiner Weise messbar ist.

Steinzeit

Die genuine Eigenschaft des Menschen, seit Urzeiten seine Umwelt verändern und gestalten zu wollen, wurde hier von cleveren Seminarleitern, Psychologen, Therapeuten und auch Künstlern lediglich mit einem neuen Begriff versehen.

Die clevere Marketingidee lautet: „Der Mensch ist kreativ!!! „

Wir können jetzt endlich alle zu Einsteins, Michelangelos und Lagerfelds werden, wenn wir nur millionenfach die Ratgeberliteratur kaufen und uns in Kreativitätstempeln mit ausgefeilten Taktiken trainieren lassen.

Wer jetzt nicht Chance am Schopfe ergreift, so heiß es da, der verpasst den Anschluss und ist verloren in den Weiten der digitalen Welt. Klassische Disziplinen wie Lernen, Fleiß und stetiges Bemühen erscheinen wie antiquierte Techniken aus den Mottenkisten spießiger Hauslehrer.

Zwei Seiten

Heute geht es um Dinge wie intrinsische Motivation, Ambiguitätstoleranz,  Elaboration,  Synektik und Six Thinking Hats.

Schon mal davon gehört? Nein?  Macht Nix!

Als vor über 30000 Jahren die Steinzeitmenschen begannen die Höhle von Lascaux auf fantastische Weise auszumalen, wurden sie glücklicherweise noch nicht von irgendwelchen Kreativexperten belästigt, sondern konnten ihrem natürlichen Gestaltungsdrang freien Lauf lassen.

Es sind aber bei Leibe nicht nur die schönen Dinge, die Ausdruck des unvermeidbaren menschlichen  Schaffung- und Veränderungsdranges sind, sondern auch alle zivilisatorischen Veränderungen unseres Planeten, die uns an den Rande der Selbstauslöschung bringen.

Der Mensch erschafft nicht nur viel, er macht noch viel mehr kaputt.

Auch die sonst angeblich so kühlen Banken und Versicherungen nehmen die Heilsversprechen von Kreativgurus gerne in Anspruch um ganzen Drückerkolonnen noch kreativere Methoden an die Hand zu geben, damit diese ihre „Ware“ an den Kunden bringen.

Dagegen wirken die vielen dümmlichen Buchtitel wie: „Der Weg des Künstlers im Beruf. Das 12- Wochen-Programm zu Steigerung der Kreativität.“ noch relativ harmlos.

Terror der Selbstoptimierung

Der ganze Kreativitätswahn ist nichts weiter als ein Teil des allgegenwärtigen Terrors der  Selbstoptimierung und Leistungssteigerung. Selbst schuld wer unglücklich, dick, erfolglos, unorganisiert und unkreativ ist. Die „Experten“ wollen Ihnen ja nur dabei „helfen“ Visionen zu entwickeln, Ziele zu verfolgen, ausgeklügelte Verfahren zu erlernen, ihre Innenwelt zu erobern um dadurch leistungsfähiger und erfolgreicher zu werden.

Es soll etwas in ihnen geweckt werden, was noch nie geschlafen hat. Es soll ihnen etwas verkauft werden, was schon immer in Ihrem Besitz war. Sie besitzen von Natur aus wie jeder Mensch große Gestaltungskraft. Der Eine mehr der Andere weniger.

Ob Sie nun diese Schöpferkraft abrufen oder nicht ist ganz allein Ihre Sache.

 

Sie müssen keine faden Ratgeber lesen oder obskure Seminare besuchen. Lassen Sie sich nicht einreden sie wären nicht kreativ. Sie besitzen alles was Sie brauchen. Und das im Übermaß. Nutzen Sie diese Fähigkeit oder lassen sie Sie es sein. Beides ist gut. Bleiben sie gelassen, das ist das Beste.

 

Viel Freude bei der Arbeit.

 

Volker Altrichter, Künstler und Dozent

Zu den Seminaren von Volker Altrichter